1908 schaffte er den Sprung nach Wien zu einem Aufbaustudium am Institut für österreichische Geschichte. Der Titel der 1909 abgeschlossenen Doktorarbeit lautete Die moldauischen Ansprüche auf Pokutien (1388–1547). Darin wandte er sich gegen Schriften von Ukrainern wie Myron Korduba, der dieses Gebiet als ukrainisches mit Hinweis auf die ruthenische Bevölkerung beansprucht hatte. Im Anschluss arbeitete Nistor an der Habilitationsschrift Die auswärtigen Handelsbeziehungen der Moldau im XIV.–XVI. Jahrhundert, die 1911 in Gotha erschien. Nistors Argumentation, dass die Bukowina zu Unrecht von der Moldau abgetrennt worden sei, kam in Rumänien gut an und der Autor erhielt eine Auszeichnung der Rumänischen Akademie (Vuia, S. 20). Als Privatdozent startete er in Wien im Wintersemester 1911/12 seine erste Vorlesung zum Thema „Der Platz der Rumänen in der südosteuropäischen Geschichte“. Seine rumänischen Unterstützer im Reichsrat setzten sich dafür ein, dass für ihn ein neuer Lehrstuhl in Czernowitz geschaffen würde. Unter ihnen waren die Abgeordneten Aurel von Onciul und Constantin Isopescul-Grecul (Ungureanu, S. 226).

Nach der Antrittsvorlesung als außerordentlicher Professor für südosteuropäische Geschichte im Oktober 1912 widmete sich Nistor fast ausschließlich den Rumänen (Moldauer). Der rote Faden seiner Schriften war weiterhin die Abwehr ruthenischer Ansprüche auf Partizipation, wobei er auf deren späten Zuzug in die Bukowina im 18. Jahrhundert verwies. In seiner 1912 publizierten Schrift Zur Geschichte des Schulwesens in der Bukowina behauptet er, dass die Wiener Behörden die Zuwanderung der Ruthenen gefördert hätten; daher sei ihre Anzahl in den Volkszählungen zwischen 1880 und 1910 so stark angewachsen. In der rumänischen Ausgabe von 1914 spitzte er seine These weiter zu: angeblich habe die Verhinderung von rumänischen Schulen zur Assimilation vieler Rumänen geführt. Besonders in der Schrift Legăturile noastre cu Ardealul (Unsere Beziehungen zu Siebenbürgen) von 1914 betonte er die Einheit aller Rumänen (Vuia, S. 22).

Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges war Nistor nur in kleinen rumänischen Zirkeln von Intellektuellen tätig. Als Student trat er in die „Societatea Academică Junimea“ [Gesellschaft Akademische Jugend] ein und wurde 1898/99 ihr Vorsitzender. Er gab zusammen mit George Tofan das Vereinsblatt Junimea Literară [Literarische Jugend] zwischen 1909 und 1914 heraus (Cocuz/ Hulubei, S. 55). Er pflegte gute Kontakte zur „Liga culturală“ [Kulturliga] von Nicolae Iorga in Bukarest, die in ihren Sommerkursen unter auswärtigen Rumänen Irredentismus und Antisemitismus verbreitete. Nistor wurde durch Iorgas Unterstützung 1912 korrespondierendes Mitglied der Rumänischen Akademie der Wissenschaften und 1915 Vollmitglied (Michelson, S. 118).

Zu Nistors Rolle während des Krieges und bei der Eingliederung der Bukowina in den rumänischen Staat siehe "Annexion der Bukowina durch Rumänien 1918".

Nach dem Ersten Weltkrieg wuchs Nistors Einfluss auf die Innenpolitik beständig: zwischen 1922 und 1926 wirkte er als Staatssekretär und 1927/1928 als Minister für öffentliche Aufgaben. Von Oktober 1934 bis September 1935 war er Arbeitsminister. Das von ihm propagierte Ziel der Schaffung einer starken rumänischen Mittelschicht zeigte geringe Fortschritte, dagegen schritt die zunehmende Marginalisierung von Nichtrumänen in der Wirtschaft schnell voran. Von September 1935 bis August 1936 war Nistor Minister für Arbeit, Gesundheit und Sozialschutz, er dekretierte eine besondere Förderung für Rumänen im Handel.

Die rumänische Jugend strömte verstärkt zur Eisernen Garde und Politiker der Mitte wie Nistor übernahmen immer mehr Programmpunkte der Rechtsradikalen. Die Garde hatte auch unter den Professoren der Czernowitzer Universität einige Unterstützer, die den Ausschluss aller Juden aus dem staatlichen Bildungswesen und den Führungspositionen in der Wirtschaft forderten. Eine recht große Gruppe von Rumänen wollte nicht nur die Juden, sondern auch die letzten Ukrainer aus der Czernowitzer Universität herausdrängen. Nistor musste als Rektor 1937 wegen tätlichen Ausschreitungen vorübergehend die Universität schließen. Aufgrund der Verhaftung von Corneliu Codreanu, des Führers der Eisernen Garde, kam es laufend zu Protestaktionen von Studenten (Hausleitner: Rumänisierung, S. 304-306). Anlässlich der Eröffnung des Studienjahres im Oktober 1938 versuchte Nistor die Rechten damit zu beschwichtigen, dass trotz hohen Anteils der Juden an der Czernowitzer Bevölkerung nur mehr 188 Juden unter den insgesamt 2.630 Studierenden seien. Ein bei dieser Feier anwesender Studentenvertreter verlangte die Freilassung Codreanus. Die Anhänger der Garde demonstrierten in der Stadt, einige Studenten wurden verhaftet (Jumară, S. 166). Im November 1938 wurden neun Brände bei Czernowitzer Juden gelegt (Ciachir, S. 114).

Trotz seiner jahrzehntelangen Parteitätigkeit passte sich Nistor nach dem Verbot der Parteien dem autoritären Regime von Carol II. an. In einem historischen Beitrag brachte er die Passage unter: „Die neue rumänische Verfassung hat den politischen Kämpfen ein Ende gesetzt, welche die Bürger in ihrer gewinnbringenden Arbeit störten und welche den normalen Gang der nationalen Konsolidierung hemmten“ (Nistor: Vereinigung, S. 62). So gelang es ihm, zwischen November 1939 und Mai 1940 Kultus- und Kunstminister und danach bis Juli 1940 Staatssekretär ohne Amtsbereich zu werden. Nach dem sowjetischen Ultimatum und der Abtrennung der Nordbukowina im Juni 1940 wirkte Nistor noch ein Jahr als Professor an der Universität Bukarest und ab 1943 als Kustode in der Akademiebibliothek. 1940 verlangte er in deutscher Sprache eine Revidierung der von der Sowjetunion durchgesetzten Demarkationslinie, durch die viele Rumänen von Rumänien abgetrennt worden waren (Nistor: Vereinigung, S. 67).

Nach dem Zweiten Wiener Schiedsspruch, durch den Nordsiebenbürgen Ungarn zugesprochen wurde, verfasste er 1941 Românii în Transdanuvia (Die Rumänen in Transdanubien). In dieser und weiteren Schriften unterstrich er die römische Herkunft der Rumänen und die Kontinuität ihrer Siedlungen in Siebenbürgen, wodurch er die Ungarn zu späten Eindringlingen erklärte (Stoicescu, S. 1971). Nachdem die rumänische Armee gemeinsam mit der Wehrmacht die Sowjetunion angriff, wurde der Ton des inzwischen pensionierten Professors schärfer. In der Zeitung Bucovina begründete er die Fortsetzung des Feldzuges jenseits der Flüsse Dnjestr und südlicher Bug mit der Befreiung von Rumänen, die dort als Kolonisten seit dem 18. Jahrhundert lebten. Den Kriegszug erklärte er zum Befreiungsakt der dortigen Rumänen (Nistor: De ce luptăm dincolo de Dnistru). Mit geopolitischen Ideen legitimierte er auch die Herrschaft im rumänischen Besatzungsgebiet Transnistrien (Nistor: Aspecte). Da im September 1941 Sprecher der Ukrainer in einer Denkschrift bei den deutschen Behörden gegen die Behandlung der einen Million Slawen in der zurückeroberten Nordbukowina und in Bessarabien protestierten, verfasste er eine deutsche Entgegnung. Deren Behauptung, dass es etwa keine ukrainischen Schulen gäbe, erklärte er zu „Lügen“. Die Rumänen würden ihre Rechte bis zum „vollständigen Sieg“ fortsetzen (Nistor: Antwort, S. 17 u. S. 20). Wie der aussehen sollte, formulierte er in einer Broschüre von 1943: er verlangte die Umsiedlung von fast einer Million Slawen. Der Boden in der Bukowina solle den Rumänen gehören, denn die Slawen seien „in den rumänischen Volksraum viel später eingesprengte Fremdkörper“ (Nistor: Herkunft, S. 50).

Zwischen August 1944 und Ende 1947 regierten in Rumänien Koalitionsregierungen, in denen die Nationalliberalen vertreten waren. Daher konnte Nistor noch als Kustode in der Akademiebibliothek wirken, erst 1948 entfernten ihn die Kommunisten (Neagoe: Nistor, S. XXXV). Bis 1950 publizierte er unverfängliche Beiträge in den Analele Academiei, wie etwa über orientalische Manuskripte (Bogzan: Nistor, S. 355). Zwischen 1950 und 1955 war er im Gefängnis Sighet inhaftiert, wo ohne Prozess auch viele andere ehemalige Politiker der bürgerlichen Parteien einsaßen. Nach der Amnestie von 1955 lebte er bei seiner Tochter und schrieb an seinem Hauptwerk Istoria Românilor (Geschichte der Rumänen). Er hatte damit bereits 1942 begonnen, es blieb unvollendet. Teile davon wurden nach 1990 veröffentlicht, so etwa die Geschichte der Bukowina. Der 1991 gewählte Titel ist irreführend, denn Nistor beschränkte sich auf die Geschichte der dortigen Rumänen. Die etwa 60% Nichtrumänen tauchen darin nur am Rande als Störfaktoren der Entwicklung der Rumänen auf (Nistor: Istoria Bucovinei, S. 223-226).

Text: Mariana Hausleitner

Quellen:

  • Ovidiu Bogzan: Ion I. Nistor. Preliminarii monografice (2) [Ion I. Nistor. Monographische Präliminarien]. In: Revista istorică 5 (1994), H. 3-4, S. 345-357
  • Nicolae Ciachir: Din istoria Bucovinei (1775–1944) [Aus der Geschichte der Bukowina]. Bucureşti 1993
  • Ioan Cocuz, Matei Hulubei: Presa românească în Bucovina 1809–1944 [Die rumänische Presse in der Bukowina 1809–1944]. Bacău 1991
  • Mariana Hausleitner: Historiker der Universität Czernowitz als Wissenschaftler und Politiker: Raimund Friedrich Kaindl und Ion Nistor. In: Markus Winkler (Hg.): Partizipation und Exklusion. Zur Habsburger Prägung von Sprache und Bildung in der Bukowina. 1848 – 1918 – 1940. Regensburg 2015, S. 55-76
  • Dan Jumară: Programul societăţilor culturale academice în perioada interbelică [Das Programm der akademischen Kulturgesellschaften in der Zwischenkriegszeit]. In: Analele Bucovinei 7 (2000), H. 1, S. 157-167
  • Paul E. Michelson: Ion I. Nistor in Romanian Politics, Scholarship and Culture 1919–1933. In: Codrul Cosminului 17 (2011), H. 1, S. 117–148
  • Stelian Neagoe: Istoria Unirii Românilor [Geschichte der Vereinigung der Rumänen]. Bucureşti 1993
  • Ion I. Nistor: Die Vereinigung der Bukowina mit Rumänien. Bucureşti 1940
  • Ion Nistor: De ce luptăm dincolo de Dnistru [Warum kämpfen wir jenseits des Dnjestr]. In: Bucovina, 4. Oktober 1941
  • Ion Nistor: Aspecte geopolitice şi culturale în Transnistria [Geopolitische und kulturelle Aspekte in Transnistrien]. Bucureşti 1942
  • Ion Nistor: Antwort an die ukrainische Denkschrift. Bukarest 1942
  • Ion I. Nistor: Die Herkunft der im rumänischen Bodenraum ansässigen Ukrainer. Bukarest 1943
  • Nicolae Stoicescu: Istoricul Ion I. Nistor [Der Historiker Ion I. Nistor]. In: Revista de istorie 29 (1976), H. 12, S. 1967–1978
  • Constantin Ungureanu: Bucovina în perioada stăpănirii austriece (1774–1918): aspecte etnodemografice şi confesionale [Die Bukowina in der Zeit der österreichischen Herrschaft (1774–1918): Ethnodemografische und konfessionelle Aspekte]. Chişinău 2003
  • Ovidiu Vuia: Profesorul Ion Nistor [Professor Ion Nistor]. Bruxelles 1987