Doch seine Kindheit endete abrupt. Kurz nach Kriegsausbruch wurden seine Mutter und seine Großmutter von rumänischen und deutschen Soldaten ermordet – das Kind hörte die Schreie von nebenan. Zusammen mit seinem Vater musste er zunächst ins Czernowitzer Ghetto, später kamen sie in einem Todesmarsch in ein Lager nach Transnistrien, wo Erwin Appelfeld von seinem Vater getrennt wurde. Doch dem etwa zehnjährigen Jungen gelang die Flucht und er durchlebte die Kriegsjahre in den ukrainischen Wäldern, immer auf Wanderschaft und im Verborgenen. Später als Schriftsteller schreibt Aharon Appelfeld immer wieder über diese Zeit, nutzte das Mittel der Fiktion, um sich seinen eigenen Erinnerungen zu nähern, seine Identität und Biografie zu rekonstruieren. Es waren die kleinen Zufälle, die menschlichen Begegnungen, die ihn in diesen Jahren retteten. Vieles wirkt im Nachhinein märchenhaft, nicht real – wie etwa der Baum mit roten Äpfeln, vor dem der hungernde Edwin nach seiner Flucht plötzlich stand. Doch vor allem die Hoffnung half ihm über die Kriegsjahre. Er gab sich als christlicher Waisenjunge aus, half als Gelegenheitsarbeiter auf rumänischen Bauernhöfen. Bei einer Prostituierten am Rande eines Dorfes durfte er dann für einige Zeit unterkommen und machte ihr dafür den Haushalt. Später, 1944, heuerte er als Küchenjunge bei der Roten Armee an und überlebte so bis Kriegsende.

Über Umwege gelangt Edwin Appelfeld schließlich von der Ukraine nach Italien. Der Weg war gefährlich, die Menschen verwahrlost. Er lernte die Unterwelt kennen, musste für Diebe und Schmuggler arbeiten – das alles prägte und schulte den 12- bis 14-jährigen Jungen. An der italienischen Küste bei Neapel kam er in ein „Befreitenlager“, in dem er zusammen mit ehemaligen Häftlingen auf seine Überfahrt nach Palästina wartete. Somit begann für ihn 1946 ein neues Leben, in dem er sich allein in der Fremde, als 14-jähriger Junge ohne Sprache, der alles verloren hatte, wiederfand.

Der Anfang war nicht leicht. Um sich anzupassen, benannte er sich in Aharon um, und wie alle Neuankömmlinge lebte er im Kibbuz. Dort bauten die Bewohner Terrassen für Orangenbäume und lernten Hebräisch. Sie sollten zu ‚neuen Juden und Jüdinnen‘ erzogen werden, sollten vergessen, die Vergangenheit hinter sich lassen. Doch seine Vergangenheit, seine Erinnerungen konnte Aharon Appelfeld nicht hinter sich lassen. Im Schreiben fand er Zuflucht, fand er ein „Zuhause“, wie er sagt: „Ich setze mich hin und schreibe und bin in meinem Haus.“

Mit dem Schreiben begann er schon früh, nutzte jede freie Stunde. Zunächst waren es nur einzelne Wörter, denn Hebräisch war ihm noch fremd. Doch das Schreiben war ihm „eine Not“ – „ich musste das“, erzählt er in späteren Jahren. Denn das Schreiben hatte eine psychologische Bedeutung für ihn, mit Hilfe dessen er in seine Erinnerungen und zu seinen Eltern und Großeltern zurückkehren konnte. Doch es dauerte Jahre bis Aharon Appelfeld seinen erzwungenen Sprachverlust überwunden hatte und auf Hebräisch schreiben konnte.

Nach der Zeit im Kibbuz und der Hochschulreife studierte er an der Hebräischen Universität Jerusalem Philosophie und war von 1975 bis 2001 Professor für Hebräische Literatur an der Ben-Gurion-Universität in Beerscheba. Seinen ersten Kurzgeschichtenband veröffentlichte er 1962, es folgten ungefähr 40 weitere Prosawerke, überwiegend Romane. Doch die Anerkennung als Schriftsteller war zu Beginn nicht leicht. Eine Literatur und eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust hatte es in Israel lange nicht gegeben – erst 1961 mit dem Eichmann-Prozess begann dies zögerlich. Prosaische, nicht-dokumentarische Texte über die Schoah in Europa waren praktisch nicht vorhanden.

Aharon Appelfeld wurde mit den Jahren seines Schaffens auch international sehr bekannt, seine Bücher sind in über dreißig Sprachen übersetzt, einiges liegt auch auf Deutsch vor. Seine Werke sind durchweg biografisch geprägt, liefern aber kein authentisches Zeugnis, sondern verknüpfen vielmehr physische und körperliche Erinnerungen miteinander und finden somit eine Sprache für das Unsagbare. Erst in dem 1999 erschienenen autobiografischen Roman „Sippur chajim“ (dt. „Geschichte eines Lebens“, 2005) verwendet der Schriftsteller erstmals das „ich“. Doch immer geht es ihm um die Frage, warum die Geschichte nicht zurückgelassen werden kann, sondern prägender Teil jeder Identität ist. Der vielfach und international hoch ausgezeichnete Autor lebte über viele Jahr in Jerusalem. Er starb am 4. Januat 2018 in Petach Tikwa (bei Tel Aviv).

Text: Kirsten Heyerhoff

Werke auf Deutsch

  • Meine Eltern. Berlin 2017
  • Ein Mädchen nicht von dieser Welt. Berlin 2015
  • Auf der Lichtung. Berlin 2014
  • Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen. Berlin 2012
  • Katerina. Berlin 2010
  • Bis der Tag anbricht. Berlin 2006
  • Blumen der Finsternis. Berlin 2008
  • Elternland. Reinbek bei Hamburg 2007
  • Der eiserne Pfad. Reinbek bei Hamburg 2006
  • Geschichte eines Lebens. Autobiographie. Berlin 2005
  • Tzili. München 2005
  • Alles was ich liebte. Berlin 2002
  • Zeit der Wunder. München 2002
  • Badenheim. München 2001
  • Für alle Sünden. München 2000
  • Die Eismine. Berlin 2000
  • Der unsterbliche Bartfuß. Hamburg 1991

 

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