Eine Hauptquelle zur Geschichte und Mitglieder des „Ethischen Seminar“ bilden die Erinnerungen Eli Rottner (Eduard Rudnicki). Er stammte aus Stryj (Galizien), ging 1919 nach Czernowitz, beteiligte sich in der Jugendorganisation „Hashomer Hazair“ und war später Mitglied des Seminars. Der erste Vortrag Friedrich Kettners, dem Rottner in der griechisch-orientalischen Oberrealschule in Czernowitz beiwohnte, befasste sich mit Brunners Buch „Die Lehre von den Geistigen und dem Volk“. Vorträge Kettners stießen auf eine zunehmende Resonanz insbesondere bei jungen Erwachsenen. Es bildete sich eine Gruppe von Personen, die sich regelmäßig traf und gemeinsam Bücher von Spinoza („Ethik“) sowie von Constantin Brunner (u.a. „Der Judenhass und die Juden“) las. Der Kreis des „Ethischen Seminars“ umfasste über die drei Jahre seines Bestehens über 200 Personen. Unter ihnen war auch Eliezer (Lothar) Bickel, der nach dem Tod Brunners zu seinem Nachlassverwalter wurde. Auch die Dichterin Rosalie Scherzer (Rose Ausländer) und ihr späterer Ehemann Ignaz Ausländer besuchten das „Ethische Seminar“ Kettners. Die Philosophie Spinozas, die Rose Ausländer hier kennenlernte, beeinflusste ihr dichterisches Schaffen (Kłańska, S. 111-119). Kettner avancierte zu einem „verehrten und vertrauten Lehrer und Meister“ (Rottner, S. 40). Mehrere Vorträge Kettners wurden von seinem Assistenten Dr. Elias Zolkiewer stenographiert und werden im Leo Baeck Archiv aufbewahrt.

Eli Rottner schildert in seinen Erinnerungen die ambivalente Figur Kettners mit seinem „suggestiven Einwirkungswillen“ auf Beteiligte des Seminars, die dazu beitrugen, dass Kettner zu einer beinahe mystischen Figur avancierte. Nach dem Suizid Berta Hollingers, einer jungen Seminarteilnehmerin, wurde Kettner nach Rosiori, einem kleinen Dorf in der Südbukowina, versetzt. Das Seminar wurde zwar von Elias Zolkiewer weiter fortgeführt, erfuhr aber keine große Resonanz mehr. Zum Zerfall des Seminars trugen auch Zerwürfnisse zwischen Kettler und Zolkiewer bei, die sich 1923 zuspitzten.

Manche Teilnehmer des „Ethischen Seminars“, die aufgrund des Studiums Czernowitz verließen, gründeten eigene Zirkel, um die Philosophie Constantin Brunners weiterhin in intellektuellen Kreisen zu diskutieren. Bickel ging nach Bukarest und gründete dort einen Brunner-Zirkel. In Wien wurde die Brunner-Gruppe von Dagobert David Runes, späterer Philosoph und Gründer der Philosophical Library, geleitet. In Kolomea wurde die philosophische Gesellschaft „Platonica“ gegründet. In Krakau initiierte Moses Hilsenrad eine Brunner-Gruppe, die bis zum Zweiten Weltkrieg existierte.

Text: Kateryna Stetsevych

Materialien:

  • Constantin Brunner Collection (1932-1974, Leo Baeck Institute)
  • Maria Kłańska: Spinoza und seine Philosophie im Schaffen der deutschsprachigen Dichterin Rose Ausländer. In: Forum Philosophicum 16 (2011), H. 2, S. 111-119.
  • Eli Rottner: Das Ethische Seminar in Czernowitz. Die Wiege des Internationalen Constantin-Brunner-Kreises. Dortmund 1973.

 

 

 
  • Orte

    Orte

    Ehemalige griechisch-orientalische Oberrealschule (Siebenbürgerstr. 13, heute Holowna 87)

    Ehemalige griechisch-orientalische Oberrealschule (Siebenbürgerstr. 13, heute Holowna 87)
    Friedrich Kettner war Lehrer an dieser Schule und nutzte die Räumlichkeiten für das "Ethische Seminar". Foto: Markus Winkler (2017)