1908 organisierte Birnbaum die erste Jiddische Sprachkonferenz gemeinsam mit mehreren Mitstreitern, darunter Max Diamant. Die Kulturarbeit Birnbaums in Czernowitz zwischen 1908 und 1911 war der praktische Ausdruck einer theoretischen Erneuerung: die Schaffung einer geistigen Renaissance ostjüdischer Kultur, Sprache, Literatur und Theater. Neben seiner ausgedehnten publizistischen Tätigkeit hielt er regelmäßig als „fahrender und werbender Zionist“ in der Bukowina und in Galizien Vortrage zu politischen und kulturellen Themen. Er sprach über die jüdische Nation, über die Sprachenfrage und die Rolle der Juden in Zion und in der Galuth. Birnbaums publizistische Leistung bestand darin, durch die Gründung von Zeitungen und Zeitschriften und seiner Tätigkeit als Chefredakteur in Wien, Berlin und Czernowitz die politischen und kulturellen jüdischen Renaissancebewegungen unterstützt und zentrale Grundbegriffe in den jüdisch-nationalen Diskurs eingeführt und geprägt zu haben. Die Verlagerung der Schwerpunkte innerhalb seiner programmatischen Schriften und Vortrage führte Birnbaum ein neues Publikum zu und er konnte somit auf unterschiedliche jüdische Gruppen Impulse ausüben. Allerdings waren vor allem seine Zeitungsprojekte in der Regel durch Kurzlebigkeit, den schwierigen Aufbau einer Stammleserschaft und den Mangel einer kontinuierlichen Leitlinie gekennzeichnet. Birnbaums programmatische Zielstellungen änderten sich im Verlauf seiner Tätigkeit für den zionistischen bzw. jüdisch-nationalen Aufbau mehrfach und er war für divergente jüdische Gruppierungen impulsgebend. Seiner anfänglichen Befürwortung eines politischen Zionismus auf hebräischsprachiger Grundlage folgte die Unterstützung des Jiddischen (wodurch er sich schon in die Nähe der Poale-Zionisten bewegte) und schließlich die Hinwendung zur Orthodoxie. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er Geschäftsführer des streng religiösen Agudat Israel (hebr. „Vereinigung Israels“).

Rekurse auf die jüdische Historie, die sich in seinen publizistischen Schriften immer wieder finden, spielten in Czernowitz in der zionistischen und jüdischen Presse auch nach 1918 wichtige Rollen, beispielsweise in Mayer Ebners „Ostjüdische Zeitung“ (1919-1937), in der „Neuen Jüdischen Rundschau“ (1926-1930) Manfred Reifers oder in Salomon Kassners „Bukowinaer Volkszeitung“ (1929-1936). Diese drei Herausgeber und Autoren waren bereits vor 1918 Birnbaum und seinen programmatischen Ideen begegnet und sind damit ein Beleg dafür, dass trotz der politische, kulturellen und sozialen Zäsuren nach 1918 Verbindungslinien bestanden, die weit in die Vorkriegsära der jüdischen Nationsbildungsprozesse in Czernowitz zurückreichten.

Text: Markus Winkler

Quellen:

  • Markus Winkler: Nathan Birnbaum in Czernowitz: Ideenwelten und Publizistik. In: Analele Stiinţifice ale Universităţii „ Alexandru Ioan Cuza“ din Iaşi (Serie Nouă). Tomuri XIII–XIV 2010–2011. Editura Universităţii „Alexandru Ioan Cuza“ Iaşi 2011, S. 243–262.
  • Orte

    Orte

    Redaktion der Zeitung Das Volk (1910)

    Redaktion der Zeitung Das Volk (1910)
    Neue Welt Gasse 20, heute Schewtschenko Str. 32